PERRY-RHODAN-Kommentar 2169


LEGENDE UND WAHRHEIT ...


In der Gegenwart des Jahres 1312 NGZ müssen sämtliche zur Verfügung stehenden Informationen über die Thatrix-Zivilisation unter Vorbehalt gesehen werden, weil sie in erster Linie auf eher vagen Erzählungen und Legenden beruhen. Der Ursprung liegt rund 160.000 Jahre zurück, der Wahrheitsgehalt konnte durch die Trümmerscouts in nur wenigen Fällen durch konkrete Artefakte oder »harte Beweise« untermauert werden. Zu viel ging im Verlauf der Jahrzehntausende verloren, wurde zweifellos von der Inquisition der Vernunft gezielt entstellt, ins Gegenteil verkehrt oder gar vernichtet.

Erzählt wird sich beispielsweise, dass mit dem Aufstieg des Reiches Tradom die Goldenen Welten der Inquisition entstanden – sieben Welten, die legendäre Reichtümer tragen sollen. Eine Bestätigung, ob es sie in dieser (oder anderer) Form überhaupt gibt, steht aus. Abgesehen vielleicht von der schrecklichen Folterwelt Sivkadam und der Festung der Inquisition wurden bislang keine Hinweise gefunden, die eindeutig in einen solchen Kontext einzuordnen oder im Sinne von Hauptwelten vergleichbar Terra, Arkon, Drorah oder Gatas in der Milchstraße anzusehen wären.

Mit dem nur wenige Lichtjahre von Sivkadam entfernten Trapitz-System wurde zwar ein maßgebliches Stützpunktsystem der Valenter entdeckt, das mit der Tributschmiede und dem Hort des Konquestors Trah Zebuck in der Hierarchie des Reiches Tradom sicher eine wichtige Funktion einnahm, doch es lieferte nichts Neues hinsichtlich der Thatrix-Zivilisation.

Den Erzählungen nach soll es rund 120 Planeten geben, die nicht in den offiziellen Sternkarten verzeichnet sind und als Verbotene Welten umschrieben werden – Überbleibsel der Thatrix-Zivilisation, die vom Reich Tradom abgelöst wurde. Schon durch die Entdeckung, dass das Objekt AIFKG79256, die Schwerkraftwelt Cocindoe der orangefarbenen Sonne Cocin, eine dieser Verbotenen Welten war, verwies die Einschätzung, dass sie allesamt ausgebrannte Schlackekugeln seien, ins Reich der Fabeln und Behauptungen. Andererseits gibt es solche zerstörten Welten durchaus.

Über die Eltanen wurde inzwischen herausgefunden, dass sie keineswegs jene maßgebliche Rolle gespielt haben können, die sie sich selbst zuschrieben. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass den »Vaianischen Ingenieuren« zumindest technologisch die Führungsrolle zuzuweisen war; namentlich bekannt ist Rintacha Sahin, der maßgeblichen Anteil am technisch-wissenschaftlichen Aufbau der Thatrix-Zivilisation gehabt haben soll. Berücksichtigen wir die als »optische Grüfte« umschriebenen Steuerkammern in den AGLAZAR-Schlachtschiffen, den Fensterstationen und der Letzten Stadt der Eltanen, verbinden sich mit diesen Ingenieuren mehr Fragen als Antworten.

Kaum weniger rätselhaft und mit vielen Fragezeichen zu versehen ist alles, das mit der »gottähnlichen, alles beschützenden guten Macht« namens Anguela verbunden wird, die »alles sieht und für die Lebewesen von Tradom sorgt«. Als Sitz dieser höchsten spirituelle Instanz im Reich Tradom wird das Auge Anguelas angesehen, mit dem sich der Glaube vieler Völker verbindet, dass nach dem Tod die Seele in das Unendliche Nichts dahinter oder von Anguela selbst eingeht.

Unter realastronomischem Gesichtspunkten wird mit dem Auge Anguelas jene Glutzone von rund 5000 Lichtjahren Durchmesser verbunden, die in der Sternenbrücke zwischen den Galaxien Tradom und Terelanya angesiedelt ist. Da es sich beim Reich Tradom um ein Thoregon handelt und vergleichbare Gebilde in Gestalt des Kessels von DaGlausch oder als Feuer von Hesp Graken in Segafrendo vorgefunden wurden, wird in Anguelas Auge der hiesige PULS gesehen.

Als Symbol findet sich Anguelas Auge bei jedem Tributkastell in Gestalt des strahlenden holografischen Effekts einer dunkelroten, glimmenden Mikrosonne über einer hoch in den Himmel aufragende Säule aus Gold, die von oben bis unten mit kleinen Ornamenten bedeckt ist. Eine praktische Funktion scheinen diese Säulen nicht zu haben, sie stehen allerdings für die auf Anguela bezogene Reichsreligion Tradoms: Bei Androhung der Todesstrafe dürfen keine anderen Glaubensgemeinschaften gegründet werden.

Es wird zwar niemand gezwungen, an Anguela zu glauben, aber alle anderen Religionen werden gewaltsam aufgelöst – oder aber ihre Anhänger getötet. Es wird nicht einmal davor zurückgeschreckt, »im Notfall« ganze Planeten zu vernichten. Die Inquisition der Vernunft nutzt also massiv die Macht des Glaubens, so dass im Reich Tradom keine wirkliche religiöse Alternative existiert. Namensgebung des PULSES und der religiöse Aspekt legten bislang die durchaus berechtigte Vermutung nahe, in Anguela jene Superintelligenz zu sehen, die das Tradom-Thoregon gründete und im PULS verschwand, um diesen zu stabilisieren ...

Im Roman ist nachzulesen, dass die vielfältigen Legenden und Erzählungen keineswegs der Wahrheit entsprechen, andererseits aber auch nicht ganz falsch sind. Im Verlauf der rund 160.000 Jahre zwischen der Zeit der Thatrix-Zivilisation und der Gegenwart von 1312 NGZ hat sich allerdings derart viel gewandelt oder gar ins Gegenteil verkehrt, dass es zu einer klaren Beurteilung wohl am besten sein wird, sich nicht länger von den Überlieferungen verwirren zu lassen. Dass wir uns auf einige Überraschungen gefasst machen müssen, braucht nicht zu verwundern.

Interessant wird allerdings sein, die Ausgangslage und die mit ihr verbundenen Randbedingungen mit dem als Reich Tradom und Inquisition der Vernunft bekannten »Ergebnis« zu vergleichen. Wenn diese Entwicklung bekannt ist, lassen sich daraus vielleicht auch Mittel und Wege ableiten, um die Tyrannei wirkungsvoll zu bekämpfen. Ob sich diese Hoffnung erfüllt, steht allerdings auf einem ganz anderen Blatt, denn zur Umsetzung muss den durch das »Projekt Finsternis« in die Vergangenheit Verschlagenen die Rückkehr gelingen ...

Rainer Castor