Der grundsätzliche Wunsch, über die Fähigkeiten und Eigenschaften des natürlichen Körpers hinauszugehen beziehungsweise ihn insgesamt leistungsfähiger zu machen oder Ausfallerscheinungen entgegen zu wirken, ist bei genauer Betrachtung offenbar eine fundamentale Funktion nahezu jeder Zivilisation: Schon der Gebrauch von einfachem Werkzeug zeigt dies in markanter Weise, und letztlich kann die erstmalige Verwendung eines primitiven Faustkeils als maßgeblicher Schritt in jene Richtung betrachtet werden, die in der Erschaffung von androidischen respektive cybernetischen Organismen zum (vorläufigen?) Höhepunkt führt.
Vordergründig liegen zwischen einem Faustkeil und einem mehr oder weniger kompletten »Körperersatz« Welten, tatsächlich handelt es sich aber »nur« um einen relativen, nicht um einen prinzipiellen Unterschied. Der Faustkeil im Sinne eines Werkzeuges erweitert die »naturgegebenen« Möglichkeiten in gleicher Weise, wie das für eine »Mensch-Maschine« beim Steuern eines Gleiters oder Robotmanipulators oder eben beim Einsatz eines Ersatzkörpers der Fall ist.
Und weil ein natürlicher Körper überdies in vielem (und von vielen) als »verbesserungswürdig« angesehen wird, ist die Versuchung beträchtlich, seine Möglichkeiten zu erweitern: sei es durch kraftverstärkende Implantate, erweiterte Epidermispanzerung, verbesserte Wahrnehmungssensoren oder biomechanische Zusätze, die Gedächtnis- und mentale Auswertungsleistungen steigern. Nicht zu vergessen die umfassende »Ersatzteil-Philosophie«, bei der durch Alterung und Überlastung vom Ausfall bedrohte Organe quasi auf Vorrat gezüchtet oder nachgebaut werden, um dann bei Bedarf das Original zu ersetzen.
Die durch moderne Genchirurgie, Nanotechnologie, Biomechanik und -kybernetik zur Verfügung stehenden Möglichkeiten sind Legion. Inwieweit all das Mögliche auch tatsächlich angewendet werden kann oder darf, ist eine Frage, über die sich seit Jahrhunderten Philosophen, Theologen und Ethikkommissionen die Köpfe heiß reden - um häufig von der Praxis und ihren berüchtigten »Sachzwängen« überrollt zu werden. Schon die Grundaufgabe aller Mediker, Lebewesen zu heilen und gesund zu erhalten, treibt die eingesetzten Methoden ebenso permanent voran wie die damit verknüpften ethischen Grenzen. Wo gestern noch die Fähigkeit zur Reanimation eines Organismus endete, kann morgen ein Verfahren zur Verfügung stehen, das die Barriere zum endgültigen Tod weiter verschiebt.
Großflächige Verbrennungen sind beispielsweise seit gentechnologisch nachzüchtbarem Hautersatz kein Thema mehr, gleiches gilt für irreparabel beschädigte Organe - von Augen über Herzen bis zu Gliedmaßen (unabhängig davon, ob es sich hierbei dann um biologischen oder biomechanischen Ersatz handelt): Immerhin ist es schon fast 2500 Jahre her, daß Ronald Tekeners damaligem »Psychopartner« bei der alten USO, Sinclair Marout Kennon, nach dessen eigentlich tödlicher Einsatzverletzung auf Tahun als erstem eine »Vollprothese« verliehen wurde.
Welche Extreme mitunter erreicht werden, führen sogenannte Umweltanpassungen wie beispielsweise die der Epsaler, Ertruser und Oxtorner überdeutlich vor Augen. Und auch die Schaffung von Androiden wurde in vielfältiger Hinsicht wiederholt versucht und forciert. Genau hier zeigt sich allerdings die Problematik stets am deutlichsten: Ob die »Bestien« von M 87 als Vorfahren der Haluter oder die Multi-Cyborgs (Mucys), welche Atlan als Prätendent des Neuen Einsteinschen Imperiums (NEI) zur Zeit der Larenherrschaft »in Auftrag gab« - ab einem gewissen Punkt der »Perfektion« scheint bei solchen eigentlich auf Künstlichkeit ausgelegten »Diener-Organismen« stets der Quantensprung zum (Ich-)Bewußtsein anzustehen, so daß die »Erbauer« mehr oder weniger unfreiwillig zu fragwürdigen »Schöpfern« mutieren ...
Vor diesem Hintergrund sei angesichts der Avatara-Androiden ein gewisser Grad an Unbehagen ebenso wie der ethischer Bedenken durchaus angebracht. Sicher ist ihre Konzeption für Sonderfälle, die denen von Kennons Unfall gleichen, zunächst durchaus löblich und im Sinne einer Ersten Hilfe für die Betroffenen und ihr Überleben wichtig - vorausgesetzt, daß den Patienten später noch eine »Wahl« bleibt, im Zweifelsfalle sogar die, eben nicht den Rest ihres Lebens in Gestalt eines solchen Kunstwesens existieren zu müssen. Aber ebenso sicher ist, daß wir uns hier in einer ziemlich grauen Grauzone bewegen!
Kaum weniger wichtig ist deshalb die Frage, ob sich die Avataras mit ihren künstlichen Gehirnen, ergänzt um Syntroniken und/oder Biopositroniken, nicht schon an oben genannter Quantensprunggrenze bewegen. Und wie es auf manche Zeitgenossen wirkt, wenn ein vormaliger Killermutant wie Vincent Garron neben seiner paranormalen Multibegabung auch noch mit einem derart leistungsfähigen Kunstkörper ausgestattet wird - selbst wenn aus Sicherheitsgründen sämtliche Defensiv- und Offensivsysteme ausgebaut sind -, braucht vermutlich nicht im einzelnen ausgeführt zu werden. Was bleibt, scheint ein gewisses Maß an Resignation zu sein: Zu oft zeigte sich, daß das Mögliche letztlich doch meist zum Faktischen wird - bleibt nur zu hoffen, daß dann Murphys Law, sollte etwas schiefgehen, nicht zu heftig zuschlägt ...
Apropos 1975: Carl Zuckmayers letztes Stück »Der Rattenfänger« wird in Zürich uraufgeführt; Aristoteles Onassis stirbt, ebenso Josephine Baker; Südvietnam erklärt die bedingungslose Kapitulation; nach acht Jahren Sperre wird der Suez-Kanal wieder geöffnet; erstmals findet ein Kopplungsmanöver zwischen einer Sojus- und einer Apollo-Kapsel statt; die erste britische Unterwasser-Pipeline in der Nordsee geht in Betrieb
Rainer Castor